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Vom Schein zum Sein

Neulich hatten wir mal wieder Besuch – seit einer gefühlten Ewigkeit! Wir haben uns alle sehr darauf gefreut, und natürlich bereitete ich mich gründlich auf den Besuch vor. Soll heißen: Am Tag vorher putzte ich stundenlang unsere Wohnung. Kennt ihr das auch? Ich mag es ja grundsätzlich, wenn alles sauber ist, bevor Besuch kommt. Aber bei manchen Besuchern muss es noch ein bisschen blinkender sein – weil ich nämlich deren Wohnungen meinerseits als besonders ordentlich und rein kennengelernt habe. Diesen „Standard“ möchte ich dann auch erfüllen, und so putze ich eben besonders lange und verbissen.

Was unser Besuch über den Zustand unserer Wohnung dachte, weiß ich nicht. Wahrscheinlich fiel ihnen nicht mal etwas Besonderes daran auf.

Im Gespräch mit einer Freundin ein paar Tage später formte sich in mir ein Gedanke: Was, wenn der perfekt-saubere Schein unserer Wohnung umgekehrt Druck bei unseren Besuchern ausgelöst hat? Und sie ihrerseits ihr Zuhause immer extra doll schrubben, bevor wir sie besuchen? Von wegen: „Bei Rebekka ist es immer so sauber, da soll sie nichts Schlechtes von uns denken?“ Dann würde sich die blitzblanke Spirale weiter und weiter drehen, bis eine von uns schließlich über dem Putzeimer zusammenbricht…

 

Dieses Prinzip lässt sich auf viele Lebensbereiche anwenden: Damit niemand etwas Schlechtes über meine stoppeligen Waden denkt, rasiere ich mich im Sommer jeden Tag – und sorge mit dafür, dass (Bein-)Behaarung bei Frauen ein Tabu bleibt.

Nachmittags im Büro traut sich keine, als Erste nach Hause zu gehen. Und so bleiben am Ende alle länger…

Im Hauskreis schweige ich mich darüber aus, dass ich schon seit Monaten nicht mehr in meiner Bibel gelesen habe – und gebe so den anderen, denen es genauso geht, das Gefühl, sie seien allein damit.

Vor dem Treffen mit einer Freundin überlege ich stundenlang, was ich anziehen soll, zupfe nochmal schnell die Augenbrauen, überprüfe meine Fingernägel – und setze damit einen gewissen Standard, der meine Freundin ihrerseits unter Druck setzen könnte. Würde sie mich wirklich weniger mögen, wenn ich meine Augenbrauen nicht zupfte? Und ich sie?

Auf die Frage, wie es mir geht, antworte ich mit einem fröhlich-aufgesetzten „Alles gut!“, obwohl mir doch jeder ansehen kann, dass ich aus dem letzten Loch pfeife (so wie wir übrigens alle, dann und wann).

 

In letzter Zeit ist mir das so oft an mir selbst und anderen aufgefallen, wie sehr wir darum bemüht sind, einen guten Eindruck zu machen – und dabei authentische, ermutigende und aufbauende Begegnungen verhindern.

Ja, wir tragen durch unser eigenes Den-schönen-Schein-aufrecht-erhalten dazu bei, dass gesellschaftliche Tabus bestehen bleiben, dass der Druck größer wird, dass wir mit unseren Sorgen und Problemen allein dastehen.

Es ist klar: Eine muss den ersten Schritt machen.

Es ist riskant.

Das erfordert Mut.

Besuch einzuladen, egal, in welchem Zustand sich die eigenen vier Wände befinden – und damit unserem Gegenüber das Gefühl zu geben: Ja, wir sind auch ganz normal und leben nicht in einem Schöner-Wohnen-Magazin. Auf diese Weise ermutigen wir andere, selbst jederzeit offen für Besucher zu sein. Denn eigentlich möchte ich überhaupt nicht der Grund für andere sein, in Stress und Putzpanik zu verfallen! Dann sollte ich vielleicht erst einmal aufhören, selbst vor der Ankunft meiner Besucher stundenlang in Ecken zu schrubben, in die sowieso keiner schaut…

Ehrlich erzählen, dass es gerade schwierig ist, weil das Baby nachts viel schreit oder wir uns Sorgen um unseren Job machen oder das „Home Schooling“ die ganze Familie frustet. Weil es normal ist. Weil es allen mal so geht. Weil wir doch alle solche Tage (Wochen, Monate…) kennen.

Spontan in Schwimmbad gehen, auch wenn der Bauch gestreift und die Beine stoppelig sind – und damit vorleben, dass jede und jeder Körper den Sommer genießen und Spaß haben darf. Dass es (besonders für unsere Kinder) wichtigeres gibt als eine Mutter mit Model-Maßen und Baby-Haut.

 

Das heißt nicht, dass wir unsere Wohnungen verlottern und unsere Beine niemals mehr rasieren sollen. Wenn wir das möchten und wenn wir das einigermaßen stressfrei hinkriegen, ist das doch super.

Die Frage ist: Warum tue ich das alles?

Warum putze ich jetzt auch noch die Fenster?

Warum rasiere ich mir die Beine (den Bauch, die Zehen, das Kinn)?

Warum lächle ich die aufsteigenden Tränen weg?

 

Weil ich einen guten Eindruck machen möchte?

Weil ich nicht will, dass andere etwas „Schlechtes“ von mir denken (Spoiler alert: Das tun sie höchstwahrscheinlich nicht! Die Chancen, dass sie die frisch geputzten Fenster nicht mal bemerken, stehen ziemlich gut!)

Weil ich stark rüberkommen und mich nicht verletzlich zeigen möchte?

 

Ich kenne Frauen, die authentisch leben, die ganz sie selbst sind – und die mir damit auch die Erlaubnis geben, ich selbst zu sein. Oh, ich bewundere euch! Ich bin euch so dankbar!

Bei euch fühle ich mich wohl. Zu euch komme ich gern zu Besuch. Mit euch würde ich gern mal ins Schwimmbad gehen. Und ich möchte für andere auch eine solche Freundin sein.

Ja, ich möchte gern die Freundin sein, bei der man jederzeit klingeln kann.

Auch mit fettigen Haaren, schlechter Laune und Chaos im Wohnzimmer.

Weil uns das nämlich allen mal so geht.

Weil uns das nicht daran hindert, einander gern zu haben – im Gegenteil.

Lasst uns Verletzlichkeit wagen, uns mal ganz echt zeigen,

und schauen, was passiert.

 

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2 Kommentare

  • Andrea Micklitz

    genauso!!!! wunderbarer text. wenn ich ich in meiner mitte bin, dann kann ich das alles los- und seinlassen. aber wenn nicht – und dafür stehen die chancen im moment sehr hoch – dann verfalle ich auch in diesen wahn. obwohl ich ihn da am wenigstens gebrauchen kann. verrückt eigentlich. vielleicht tut man das ja, um das gefühl aufrecht zu erhalten, die dinge noch ein letztes quentchen kontrollieren zu können bevor man dann endlich aufgibt. sich ergibt sozusagen und wieder empfänglich wird für die gnade, einfach zu sein. danke für die erinnerung!!!

    • rebekkasloveletter

      Vielen Dank für deine Gedanken – ja, es ist so nötig, dass wir empfänglich für die Gnade sind!
      Sei gesegnet!

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